Fuchteln
genügt nicht
Österreich und die Europäische Union: ein Traktat über Flaggen,
Hymnen, Devisen, Wappen und Präambeln.
„Die Presse“ – 25. Oktober 2003, Spectrum/III
Peter Diem
Die
österreichische Bundesverfassung trägt ruinenhaften Charakter; ihr
Text ist durch eine Unzahl unsystematischer Novellen und abseitiger
Verfassungsnormen zu einem juristischen Irrgarten geworden." Das
schrieben schon 1981 die Verfasser im Vorwort zur Manzschen
Taschenausgabe des B-VG.
Ein
neues Jahrtausend musste anbrechen, die Völker Europas mussten sich zu
einem verfassungsgebenden Konvent aufschwingen, und in Österreich
musste sich ein Nationalratspräsident der Sache annehmen, um endlich
Bewegung in das Uraltanliegen einer österreichischen Verfassungsreform
zu bringen. Wahrscheinlich wird es etwas länger dauern als geplant,
will man wirklich zu einem großen Wurf kommen. Vielleicht wird auch nur
die Maus einer Gesamtkodifikation ohne wesentliche Innovationen geboren,
überraschen würde es den gelernten Österreicher nicht. Allerdings
bürgt die Dynamik der sich erweiternden Europäischen Union und die
Übernahme zahlreicher Kompetenzen durch ihre Organe dafür, dass nicht
nur alter Wein in neue Schläuche gegossen wird.
Ein
interessanter Nebeneffekt der europäischen und der österreichischen
Verfassungsdiskussion ist die Beschäftigung mit Fragen, die über die
juristische Abbildung von Zuständigkeiten und Machtverhältnissen
hinausgehen. Anhand der Frage, ob einer neu kodifizierten
Bundesverfassung eine Präambel vorangestellt werden soll, werden auf
einmal Überlegungen über die geistig-weltanschaulichen Grundlagen
unseres Rechtssystems angestellt. Unter dem Schlagwort "Soll Gott
in die Verfassung?" geht es dabei vor allem um das Problem, ob in
einem allfälligen "enuntiativen Vorwort" zum eigentlichen
Verfassungstext (auch) auf das religiöse Erbe Österreichs Bezug
genommen werden soll. Der Verfassungsrechtler Andreas Khol könnte sich
als Christdemokrat für eine Formulierung nach dem Muster der neuen
polnischen Verfassung erwärmen: "Die Werte der Republik
Österreich umfassen die Wertvorstellungen derjenigen, die an Gott als
die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben,
als auch derjenigen, die diese universellen Werte aus anderen Quellen
ableiten."
Demgegenüber
zeigen Dozent Alfred J. Noll und Professor Manfried Welan in ihrer
lesenswerten Abhandlung "Gott in die Verfassung?" (Czernin
Verlag, Wien 2003) nach genauer Erwägung des Für und Wider doch eine
gesunde Skepsis gegenüber dem Versuch, einen Verfassungstext mit über
das positive Recht hinausgehenden Zusätzen zu versehen. Müsste ja wohl
auch Andreas Khol zugeben, dass die Ableitung staatlicher Grundwerte aus
metaphysischen und nicht-metaphysischen Quellen streng logisch
betrachtet ein Nullsummenspiel ist. Statt Grundwerte außerhalb des
eigentlichen Gesetzestextes aus den verschiedensten Quellen abzuleiten,
geht es doch vor allem darum, Grundrechte im Text selbst
unmissverständlich zu verankern.
Diesbezüglich
wartet ein gewaltiges Stück Arbeit auf den Konvent, wenn er eine
lückenlose Bestimmung der Staatsziele und einen unanfechtbaren
Grundrechtskatalog in den eigentlichen Verfassungstext aufnehmen will.
Sich um diese Aufgabe herumzudrücken und wieder mit externen Texten wie
jenen von 1867 und 1950 herumzufuchteln wäre ja wohl eine
ausgesprochene Blamage. Vielleicht sollte man aus der an sich zutiefst
undemokratischen Verfassung 1934 lernen: Während deren Präambel mit
ihrer ausdrücklichen Anrufung "Gottes, des Allmächtigen"
mehr Schaden als Nutzen anrichtete, weil sie das Volk mehr entzweite als
einte, stellte die Aufnahme der Grund- und Freiheitsrechte in den
Verfassungstext selbst einen Schritt in die richtige Richtung dar.
Beim
Entwurf des "Vertrages über eine Verfassung für Europa" vom
18. Juli 2003 sind die Würfel bereits gefallen. Er beginnt mit einer
aus sechs kurzen Absätzen bestehenden Präambel, der ein Zitat von
Thukydides mit folgender Übersetzung vorangestellt ist: "Die
Verfassung, die wir haben, heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf
wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist."
Trotz
des zweifellos bedeutsamen Beitrags, den das klassische Griechenland zur
Entwicklung demokratischer Gemeinwesen geleistet hat, ist nicht ganz
einsichtig, warum dem reinen Mehrheitsprinzip an dieser Stelle ein so
großes optisches Gewicht gegeben wird, wäre ja eine
Gesellschaftsordnung ohne Achtung der Menschenrechte, von
Rechtsstaatlichkeit und Solidarität - Errungenschaften, wie sie Artikel
2 gleich darauf als "die Werte der Union" aufzählt - kaum als
demokratisch im heutigen Sinn zu bezeichnen.
Zur
Lösung des breit diskutierten "Metaphysik-Problems" bedient
sich die Präambel folgender Formel: "Schöpfend aus den
kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas,
deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die die zentrale
Stellung des Menschen und die Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit
seiner Rechte sowie den Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert
haben . . ." Die Formulierung ist an sich recht gut
gelungen, weil sie die positiven Elemente einer aus mehrfachen Quellen
gespeisten abendländischen Tradition in die zentralen Errungenschaften
der Aufklärung münden lässt, die ja den wichtigsten Beitrag Europas
zu einer humanen Weltgesellschaft darstellen. Der vierte Absatz
attestiert den Völkern Europas, dass sie, "wiewohl stolz auf ihre
nationale Identität und Geschichte, entschlossen sind, die alten
Trennungen zu überwinden und immer enger vereint ihr Schicksal
gemeinsam zu gestalten". Er weist damit die europäische Einigung
als säkulares Friedensprojekt aus. Dennoch bleibt bei diesen beiden
zentralen Aussagen der Präambel eine Frage offen: Kann man das positive
Weiterwirken der kulturellen und religiösen Überlieferungen und der
Geschichte der europäischen Nationalstaaten einfach als
"übergesetzliche" Inspiration in Anspruch nehmen, ohne sich
gleichzeitig wenigstens andeutungsweise von all dem zu distanzieren, was
unbestritten Ausfluss und Begleiterscheinung ebendieser Traditionen war:
von den Kreuzzügen, der Inquisition, der Judenverfolgung und den
Hexenprozessen bis zu den mittelalterlichen Bruder- und neuzeitlichen
Religionskriegen, von der Ausbeutung der Schwächsten in der Phase des
Kolonialismus und des Frühkapitalismus, von den Gräueln des Ersten bis
zum Horror des Zweiten Weltkrieges, von den Millionen Toten in den
NS-Vernichtungslagern und in den Gulags des Bolschewismus bis zu den
Hekatomben, die am Balkan bis in die jüngste Zeit aus nationalistischen
und konfessionellen Motiven hingeschlachtet wurden - können die Völker
Europas wirklich nur "stolz auf ihre nationale Identität und
Geschichte" sein?
Die
Antwort ist einfach - es ist weitaus leichter, sich über das positive
Walten der Geschichte zu einigen, als ihre negativen Züge außer Streit
zu stellen. Und so mündet die Präambel auch in einen optimistischen
Gedanken: "In Vielfalt geeint bietet Europa seinen Völkern die
besten Möglichkeiten, dieses große Abenteuer fortzusetzen, das ei- nen
Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten
kann."
Obwohl
sie bereits an dieser Stelle verwendet wird, gelangte die Devise
"In Vielfalt geeint" zusammen mit den anderen Symbolen des
vereinten Europa buchstäblich erst in letzter Minute in den
Entwurfstext. Sie findet sich auf Seite 222 unter Artikel IV-1 mit der
köstlichen Fußnote: "Der Konvent würde es für besser halten,
wenn dieser Artikel in Teil I aufgenommen würde." Wie wahr und wie
typisch für das Schicksal aller Symbolgesetze, offenbar nicht nur in
Österreich!
Und
das sind die "Symbole der Union": Die Flagge der Union stellt
einen Kreis von zwölf goldenen Sternen auf blauem Hintergrund dar. -
Die Hymne der Union entstammt der "Ode an die Freude" aus
Beethovens Neunter. - Die Devise der Union lautet: In Vielfalt geeint. -
Die Währung der Union ist der Euro. - Der 9. Mai wird in der gesamten
Union als Europatag gefeiert.
Die
blaue Europaflagge hat sich seit ihrer Annahme durch den Europarat 1955
und ihre Übernahme durch die EU 1983 immer mehr durchgesetzt. Heute
sind die goldenen Sterne - als Brüderlichkeitssymbole, deren
unabänderliche Zwölfzahl "gegen den blauen Himmel der westlichen
Welt" ein Zeichen für Vollkommenheit setzen will - Ausdruck des
Stolzes der Völker, die der Union angehören, und Symbol der Hoffnung
für jene, die noch zu ihr stoßen wollen.
Weniger
glücklich kann man über eine Hymne ohne Text sein. Auch wenn die
Sprache der Musik Grenzen leicht überwindet, ist es doch ein wenig
schade, dass 450 Millionen Europäer nicht imstande sein sollten, jene
paar Worte zu finden, die sie - jeder in seiner Sprache - bei
feierlichen Anlässen singen könnten. Vielleicht folgt der
Beschlussfassung über den Verfassungstext einmal ein offizieller
Wettbewerb - bei der sonstigen Ausschreibungswütigkeit der EU wäre das
ja wohl die korrekte Vorgangsweise -, um zu einem Text zu kommen.
Der
Europatag erinnert an den 9. Mai 1950, an dem Robert Schuman seine
berühmte Rede über die Einigung Europas hielt. Bisher wurde der 5. Mai
als Europatag gefeiert - er sollte die Gründung des Europarats am 5.
Mai 1949 ins Gedächtnis rufen, blieb aber weitgehend unbeachtet.
Man
darf die neuen Europasymbole in ihrer Summe nicht gering schätzen,
immerhin enthalten sie zumindest potenziell die Möglichkeit, dem
Europagedanken ein wenig von jener emotionalen Wärme zu geben, die
einer Wirtschafts- und Sicherheitsunion, die von ihren Bürgern oft nur
als Vorschriftenproduzentin empfunden wird, aus Prinzip mangeln muss.
Wie
aber wird der österreichische Verfassungskonvent mit der Frage der
Symbole un- seres Landes umgehen? Es bedarf keiner besonderen Sehergabe,
um zu prognostizieren, dass diesem Thema - ähnlich wie beim
Europakonvent - seine letzte Sorge gelten wird. Werden doch im Land der
Berge und am Strome Kompetenzen heiß umfehdet, wild umstritten sein -
wird der Konvent die Kraft aufbringen, einem starken Herzen gleich,
mutig in die neuen Zeiten zu schreiten?
Was
wäre denn überhaupt zu beschließen, wenn es um die Symbole
Österreichs geht?
Mit
der Verfassungsnovelle 1981 wurde das Bundeswappen neben den Farben der
Republik in der Verfassung verankert. Wie mehrere Umfragen in den
vergangenen Jahren zeigten, haben gelegentlich aufgetauchte
Überlegungen, Hammer und Sichel als angeblich kommunistische Symbole
aus dem Wappen zu entfernen, heute in der Bevölkerung keine Chance.
Vielleicht könnte man wenigstens in den erläuternden Bemerkungen die
Bedeutung der fünf Symbole im österreichischen Wappen (Bindenschild,
Hammer, Sichel, Mauerkrone und gesprengte Ketten) erläutern, wie dies
noch im Text des Wappengesetzes vom Mai 1945 der Fall war.
Nach
Durchführung eines sehr fairen Wettbewerbs fasste der Ministerrat am
22. Oktober 1946 den Beschluss, die Melodie des damals noch Mozart
zugeschriebenen "Bundesliedes" zur neuen Bundeshymne zu
erklären. Über den Text wurde man sich erst vier Monate später einig,
was der "Wiener Zeitung" vom 26. Februar 1947 folgende Notiz
wert war: "Vor Beginn des Ministerrates war im Bundeskanzleramt ein
kleiner Chor der Wiener Sängerknaben unter der Leitung von Hofrat
Schnitt erschienen, der den versammelten Regierungsmitgliedern die neue
österreichische Bundeshymne nach den beiden Texten von Paula Preradovic
und Dr. Siegmund Guggenberger vortrug. Der Ministerrat beschloss, den
Text der Dichterin Paula Preradovic nach Vornahme einiger kleiner
textlicher Änderungen als offiziellen Text der österreichischen
Bundeshymne zu genehmigen."
Mittlerweile
hat sich die österreichische Bundeshymne - weniger durch die
Bemühungen der Schulen als vielmehr durch diverse Sportereignisse - in
allen Bevölkerungskreisen durchgesetzt: ein großer Unterschied zur
Ersten Republik. Der Umstand, dass die Melodie nicht von Mozart, sondern
von seinem Logenbruder Johann Holzer stammt, tut diesem Umstand
keinerlei Abbruch.
Der
26. Oktober ist 1967 mit einfachem Gesetz, aber mit für
Verfassungsänderungen ausreichender Mehrheit zum arbeitsfreien
Nationalfeiertag bestimmt worden. Während Präambeln in der
österreichischen Rechtsordnung sehr selten sind, enthält das Gesetz
über den Nationalfeiertag eine Präambel, die auf das
Neutralitätsgesetz vom 26. Oktober 1955 Bezug nimmt. Sie leitet aus der
immerwährenden Neutralität den Willen Österreichs ab, "einen
wertvollen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten zu können".
Hier haben wir also den Fall, dass der geistige Inhalt eines
symbolträchtigen Gesetzes in eine Präambel "ausgelagert"
ist. Eigentlich ist das ein Glücksfall: Denn in streng juristischer
Auslegung besitzt der österreichische Nationalfeiertag damit keinen
Inhalt! Und so wurde er auch immer mehr zum Nationalwandertag.
Wäre
es denkbar, dass der Konvent unserem staatlichen Symbol
"Nationalfeiertag" Verfassungsrang und dabei gleichzeitig eine
inhaltliche Gestalt gibt? Das Verfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955
über die immerwährende Neutralität wird den Sprung in den Korpus der
Verfassung ja kaum schaffen. Wie wäre es mit einem Sätzchen etwa
folgender Art? "Der Nationalfeiertag dient der Besinnung auf die
Identität und Eigenständigkeit Österreichs als Teil eines größeren
Europa und auf seinen Willen, durch Zusammenarbeit insbesondere mit
seinen Nachbarländern einen wertvollen Beitrag zum Frieden in der Welt
zu leisten."
Im
Gegensatz zu den USA und deren Bundesstaaten sind staatliche Devisen in
Europa nicht gebräuchlich. In der über tausendjährigen Geschichte
Österreichs hat es viele Herrscher gegeben, und die meisten von ihnen
haben ein persönliches Motto gewählt. Unter diesen Devisen sind nur
ganz wenige, die auch nur annähernd in die moderne Zeit passen würden.
Dazu zählen etwa der Wahlspruch von Kaiser Leopold I., "Consilio
et industria" ("Durch Klugheit und Beharrlichkeit"),
jener von Kaiser Franz I., "Iustitia regnorum fundamentum"
("Gerechtigkeit ist das Fundament der Königreiche", er
schmückt noch heute das äußere Burgtor in Wien), vor allem aber das
Motto Franz Joseph I., "Viribus unitis" ("Mit vereinten
Kräften").
Während
die Nationalitätenpolitik der Doppelmonarchie diesem Motto in keiner
Weise entsprach, hätte diese Devise doch sehr gut auf die Politik des
Kleinstaates Österreich ab 1919 gepasst. Leider trat das Gegenteil ein
- fast so, als hätte die Nationalversammlung das Motto "Divide et
impera" ("Teile und herrsche") zur Staatsdevise der
Ersten Republik erklärt. Ganz anders die Situation in der Zweiten
Republik: "Mit vereinten Kräften" schaffte das Land den
Aufstieg zu einer der reichsten Nationen der Erde.
Der
Autor, der übrigens alles andere als Legitimist ist, verlangt nicht und
erwartet nicht, dass der Konvent unserem Land eine Staatsdevise gibt.
Aber zurufen darf man dem Konvent allemal ein lautes "Mit vereinten
Kräften!".
Peter
Diem, geboren 1937 in Wien, Dr. jur., war u. a. Leiter der Abteilung
Medienforschung im ORF. Zusammen mit Trautl Brandstaller setzte er sich
in einer Bürgerinitiative für die Errichtung eines "Hauses der
Geschichte Österreichs" ein. Mehrere Buchpublikationen, u. a.
"Die Symbole Österreichs. Zeit und Geschichte in Zeichen".
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